(ke) Der «Chemie-Nobel» geht an die Französin Emanuelle Charpentier und die US-Amerikanerin Jennifer Doudna für die Genome-Editing-Methode Crispr/Cas9, der «Physik-Nobel» an die US-Amerikanerin Andrea Ghez (zusammen mit zwei männlichen Kollegen) für die Forschung zu Schwarzen Löchern und der «Literatur-Nobel» an die US-amerikanische Autorin Louise Elisabeth Glück … bei elf Nobelpreisträger*innen sind das «immerhin» vier Frauen, es gab schon «männlichere» Jahre.
Leider können wir im CID – in Ermangelung von Teleskopen und Genscheren – die enormen Leistungen der Wissenschaftlerinnen nicht anschaulich präsentieren. Mit den Werken der ausgezeichneten Schriftstellerinnen können wir allerdings dienen.
So mit dem zweisprachigen «Averno» (Luchterhand 2007) der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück. Das Nobel-Komitee würdigt unter anderem Glücks “tiefes Verständnis” für Verlust ebenso wie ihr Gespür für Humor. Weitere Titel werden wir bald ergänzen.
Schon im Sommer wurde die Lyrikern Elke Erb mit dem Georg-Büchner Preis ausgezeichnet, aus der Begründung zur Verleihung lässt besonders dieses Lob aufhorchen: für Erb sei „Poesie eine politische und höchstlebendige Erkenntnisform».
Das ist auch zutreffend für Ulrike Bails Gedichte, die dieses Jahr gleich zwei wichtige Preise erhält. Die in Luxemburg lebende Lyrikerin ist dieses Jahr «Autorin des Jahres» – eine Auszeichnung der Autorinnenvereinigung AV.
Außerdem erhält Bail dieses Jahr (nach vorangegangenen Auszeichnungen 2011 und 2015) den 1. Preis des Concours littéraire national in Luxemburg für ihr Werk «statt einer ankunft»: Die Jury aus Lambert Schlechter (Präsident), Claude Bommertz, Sarah Lippert, Tonia Raus und Raoul Walisch lobt einstimmig die gelungene und originelle poetische Herangehensweise der Autorin. Bails Band «urbaner Lyrik», wie das Wort schreibt, folgt zwei Busfahrten durch die Stadt (‘binnchen-place de l’europe’ & ‘aéroport-val fleuri’). Zwischen den Haltestellen als konkreten Orten, zwischen ihrer Geschichte und der Geschichte der Lyrikerin entwickelt sich eine lyrische Spannung.
Alle, die nicht bis zum Druck «statt einer ankunft» warten möchten, können den frisch erschienenen fünften Band der Autorin «wie viele faden tief» (Conte 2020) im CID ausleihen. Das verbindende Motiv der 50 Gedichte ist «Nähen». Die Autorin nutzt – wie Elke Erb – Lyrik als Erkenntnisform. Sie lotet die Möglichkeit aus, Material zusammenzufügen, manchmal in der Perspektive eines «Reparierens», manchmal, um das Zerrissene oder Unverbundene hervortreten zu lassen. Ausgangspunkt sind die konkreten Bilder der einzelnen Nahtformen und Näharbeiten. Als Leser*in beginnt man selbst Teil des Nähprozesses zu werden und wandert im Rhythmus der Nähmaschine oder des Klangs von reißendem Stoff – wie an einem Seil – mit den Sprach- und Bildassoziation mit. Ein Ganzes entsteht dabei selten, es bleiben Fragmente im allerbesten Sinne. Am unteren Seitenrand des Bandes zieht sich eine besondere Wortnaht durch, die entgegen des Narrativs der Seitenfolge, die Gedichte neu miteinander verbindet. Eine dritte Perspektive eröffnen die farbigen Collagen der Autorin, die am Ende des Bandes zu sehen und zu lesen sind. Neben das Nähzeug stellen und oft in die Hand nehmen!
Der Deutsche Buchpreis geht dieses Jahr an die Autorin Anne Weber für “Annette, ein Heldinnenepos” (Matthes & Seitz 2020). Die Auszeichnung kann auch als eine Anerkennung für politische Literatur gelesen werden: das Verswerk ist der französischen Neurophysiologin Anne Beaumanoir gewidmet, die als junge Frau Teil des kommunistischen Widerstands war und später den algerischen Befreiungskampf aus der französischen Kolonialherrschaft unterstützte. Bis heute ist Beaumanoir gegen Rassismus aktiv und engagiert sich in der Flüchtlingspolitik. Anne Weber beleuchtet mit ihrem Werk also auch den noch wenig anerkannten Anteil von Frauen am Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die in Offenbach geborene Autorin, lebt und schreibt heute in Frankreich. Sie ist Schriftstellerin in deutscher und französischer Sprache und literarische Übersetzerin. Im CID gibt es weitere ihrer Werke.
Zuletzt sei an das Werk der jüdischen Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger erinnert, die am 6. Oktober verstarb. Wir widmen dieser großartigen Frau einen Büchertisch, der sowohl ihr literaturwissenschaftliches Werk, ihre Autobiografie «weiter leben» sowie den Lyrikband «Zerreißproben» präsentiert.
Ihr literarisches Arbeiten und politisches Engagement reflektiert an vielen Stellen ihre Geschichte als jüdische Überlebende der deutschen Konzentrationslager.
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